Man hört ihn in der Ferne. Der Wind trägt den
Ruf des Hirten über die Hänge des verkarsteten Dinarischen Gebirges:
„Ooooooj!“. Ein Hirte vom benachbarten Berg antwortet mit dem gleichen Ausruf und warnt ihn somit vor der Gefahr, die im Verborgenen lauert. Ein Wolf nähert sich leise und vorsichtig der Herde und wartet auf den richtigen Augenblick anzugreifen.
Diese kurze Anekdote ist nur eine unter vielen, die sich um die
Entstehung des außergewöhnlichen Ojkanje-Gesanges ranken, der eng mit den
Traditionen und Bräuchen der Bewohner des
kroatischen Hinterlands verbunden ist. In der
Lika, über
Ravni Kotari,
Bukovica, der
dalmatinischen Zagora bis hin zur Region von
Konavle kann man den
Kehlgesang hören, der archaisch und kunstvoll zugleich klingt. Im Volksmund existieren viele Bezeichnungen für den polyphonen Ojkanje-Gesang. Zwischen den
Flüssen Cetina und Krka nennt man ihn
Ojkalica und in den Regionen
Ravni Kotari und Bukovica u. a.
Orzenje. In manchen Orten wird der Gesang reiner Männergruppen als
Treskavica und der von Frauengruppen als
Vojkavica bezeichnet. Man kennt ihn aber auch als
„Wolfsgesang“, was nicht nur als Hinweis auf seinen Ursprung, sondern auch als Beschreibung seiner Charakteristik interpretiert werden kann.
Dieser Kehlgesang, bei dem die Sänger eine bestimmte Technik nutzen, um die Stimme auf den Silben -oj oder -hoj zum Beben zu bringen, zeichnet sich durch einen ungewöhnlichen Klang aus, der durchaus an das
Heulen der Wölfe erinnert. Dieses unverwechselbare Beben der Stimme wird
Skalina genannt.
Als
„Reisegesang“ oder „einsamen Gesang“ bezeichnet man den Sologesang aus der Lika. Weiter verbreitet und populär ist jedoch die Ojkalica - der polyphone Gesang im Duett oder in der Gruppe. Die erste Stimme, die sich durch ihre
Kraft und Intensität hervorhebt, wird von der zweiten Stimme begleitet, die im Moment des langanhaltenden und scharfen bebenden Tons einen längeren Begleitton erzeugt. Es entsteht eine Frage-und-Antwort-Situation, wie bei den Hirten aus der Anekdote. Die restlichen Stimmen setzen ein, wenn die zweite Stimme ihr Zeichen dazu gibt.
Die Dauer des Gesanges richtet sich danach, wie lange die erste Stimme den Atem halten kann. In den Reimpaaren, die wie Epen aus 10-silbigen Versen bestehen, werden unterschiedliche
Aspekte des Lebens thematisiert. Von der Geburt, Hochzeit bis hin zum Tod - einst wurden die wichtigen Lebensereignisse mit Liedern begleitet. Aber auch ernsthafte, alltägliche, sogar humoristische Themen werden im archaischen Gesang wiedergegeben. Diese wichtigen Funktionen der Kommunikation und der mündlichen Überlieferung reichen bis in die vorillyrische Zeit zurück. Ojkanje weist heute noch
kulturelle Merkmale des Gesanges auf den Gebieten des antiken Dalmatiens auf. Man geht davon aus, dass ihn die Slawen mit dem Einzug in diese Gebiete übernommen und bewahrt haben. Dieser uralte und primitive Gesang stellt eine der ältesten Formen der Polyphonie dar und wurde einst mündlich
von Generation zu Generation weitergegeben.
Die Träger dieser Tradition sind heutzutage
meist ältere Sänger, die innerhalb der Gemeinden einen
prominenten Status haben. Leider gibt es immer weniger junge Menschen, die sich für das Erlernen dieses kroatischen Volksgesanges interessieren. Viele Verse, Melodien und spezifische Stile gehen deshalb verloren.
Seit 2010 befindet sich der Ojkanje-Gesang auf der
Liste des dringend erhaltungsbedürftigen immateriellen Kulturerbes der UNESCO. Es sind die zahlreichen Kulturvereine und Folkloregruppen, die mit ihren Auftritten und der Ausbildung junger Nachwuchssänger den
Erhalt der Tradition sichern.
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Maja Kovacevic
23.2.2022